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8.4 Konzeption priorisierter Leistungen in Digitalisierungslaboren


Die Konzeption priorisierter Leistungen/Leistungsbündel erfolgt in Digitalisierungslaboren durch interdisziplinäre Teams mit Fach- und Digitalisierungsexpert:innen aus Bund, Ländern und Kommunen, rechtlichen und technischen Expert:innen, UX Designer:innen sowie Agile Coaches – idealerweise unter Leitung eines „Product Owners" als Projektleiter:in aus der öffentlichen Verwaltung.


8.4.1 Soll-Prozess

Der Soll-Prozess für die betrachtete Verwaltungsleistung wird typischerweise entlang der in der Ist-Analyse identifizierten Schmerzpunkte aus Sicht der Nutzerinnen und Nutzer erarbeitet. Abbildung 63 visualisiert, wie die in den Nutzer:inneninterviews adressierten Schmerzpunkte im verbesserten Soll-Prozess adressiert werden.

Abbildung 63: Entwicklung Zielvision Wohngeld


8.4.2 Durchführen von Design-Thinking-Workshops

Am Anfang vieler agiler Digitalisierungsprojekte steht ein sogenannter Design-Thinking-Workshop, in dem gemeinsam mit Nutzerinnen und Nutzern ein erster Entwurf eines Soll-Prozesses für die kritischen Punkte der betrachteten Verwaltungsleistung entwickelt wird. Die Design-Thinking-Workshops verfolgen zwei wesentliche Ziele. Zum einen soll eine nutzungsfreundliche Zielvision für den betrachteten Prozess entwickelt werden. Zum anderen besteht ein großer Mehrwert des Workshops in der direkten Interaktion von Personal der öffentlichen Verwaltung und Nutzer:innen. Diese Begegnungen bieten die Möglichkeit, Mitarbeiter:innen der öffentlichen Verwaltung für die Nutzer:innenbedürfnisse zu sensibilisieren und den Mehrwert direkten Kund:innenfeedbacks aufzuzeigen.

Im Folgenden werden die Vorbereitung, Ablauf und Endergebnisse eines Design-Thinking-Workshops beschrieben.

In der Vorbereitung auf den Design-Thinking-Workshop sollten zunächst die Teilnehmenden festgelegt werden. Dabei werden alle Mitglieder des Digitalisierungslabors eingeladen, wobei der Design-Thinking-Workshop auch in einer Subgruppe durchgeführt werden kann. Unter den Workshop-Teilnehmenden sollten neben Nutzerinnen und Nutzern in jedem Fall User Experience-Designer:innen und Expert:innen von der Fachseite (sowohl auf Rechtsetzungs- als auch Vollzugsebene) vertreten sein. Für die Kleingruppenarbeit im Design-Thinking-Workshop sollten Gruppen von 5-10 Teilnehmenden gebildet werden. Je Gruppe sollten eine Moderation und mindestens ein:e Nutzer:in teilnehmen.

Die Nutzerinnen und Nutzer sollten frühzeitig vor dem Workshop identifiziert und akquiriert werden. Bei der Akquise bestehen die wesentlichen Möglichkeiten in der direkten Einladung von Nutzerinnen und Nutzern durch die Vollzugseinheit oder in der Beauftragung einer Agentur, die auf Kund:innenenbefragungen spezialisiert ist. An Material sind neben Räumen, Stellwänden, Post-its und ausreichend Stiften vor allem zwei großformatige Poster je Kleingruppe vorzubereiten. Eines dient als Vorlage zur Identifikation der Schmerzpunkte im Status Quo (Abbildung 64). Für die Erstellung der Aktuellen Nutzer:innenreise kann die Vorlage Aktuelle Nutzer:innenreise optional heruntergeladen werden. Das andere Poster wird zur Erarbeitung des nutzungsfreundlichen Zielprozesses verwendet (Abbildung 65). Sofern es möglich ist, kann die Identifikation der Schmerzpunkte im Status Quo durch eine vorbereitete Darstellung des Ist-Prozess unterstützt und beschleunigt werden.

Abbildung 64: Vorlage aktuelle Nutzer:innenreise



Abbildung 65: Vorlage zukünftige Nutzer:innenreise

Für den Design-Thinking-Workshop sollte je nach Komplexität der betrachteten Prozesse und Größe der Gruppe ein Zeitrahmen von 4-6 Stunden eingeplant werden. Im Folgenden werden beispielhaft typische Elemente des Ablaufs beschrieben:

  • Begrüßung und Vorstellung der Teilnehmenden (Plenum, ca. 15 Minuten)
  • Erläuterung der Methodik des Workshops (Plenum, 15-30 Minuten)
  • Führen von Nutzer:inneninterviews und Vorstellung der Nutzer:innen (Kleingruppen, 30-40 Minuten)
  • Identifikation der Schmerzpunkte in der Ist-Kund:innenreise (Kleingruppen, 30-60 Minuten)
  • Erstellung der Soll-Kund:innenreise (Kleingruppen, 60-90 Minuten)
  • Priorisierung der Kernelemente der Soll-Kund:innenreise (Kleingruppen, 15 Minuten)
  • Skizzieren von Papier-Prototypen für die Kernelemente des erarbeiteten Soll-Prozess (60 Minuten)
  • Feedbackrunde, Ausblick auf nächste Schritte und Verabschiedung (Plenum, ca. 30 Minuten)

Sofern der Workshop in mehreren Kleingruppen durchgeführt wird, sollte im Plenum eine kurze gegenseitige Ergebnispräsentation nach den jeweiligen Kleingruppenarbeiten geplant werden. In dieser geht es nicht um Vollständigkeit, sondern um eine kurze Vorstellung der wesentlichen Erkenntnisse und Ideen in unter drei Minuten je Gruppe.

Die Ergebnisse des Design-Thinking Workshops sind – abhängig vom genauen Format des Workshops – eine Sammlung der Schmerzpunkte aus Nutzer:innensicht im Ist-Prozess, ein erster Ansatz für einen verbesserten Soll-Prozess sowie erste Skizzen für Prototypen entlang der identifizierten Schlüsselmomente aus Nutzer:innensicht. Abbildung 66 visualisiert diese Ergebnisse am Beispiel des Design-Thinking-Workshops im Pilotlabor Wohngeld.


Abbildung 66: Übersicht Ergebnisse Design-Thinking Workshop Wohngeld


8.4.3 Erstellen von Klick-Prototypen

Auf Basis der Erkenntnisse aus der Ist-Analyse sowie des in einem möglichen Design-Thinking-Workshop entwickelten Soll-Prozesses werden Klick-Prototypen durch UX-Design-Experten erstellt und in mehreren Iterationen mit Nutzer:innen getestet. Dabei werden häufig drei verschiedene Reifegrade des Klick-Prototypen erstellt und getestet.

Im ersten Schritt werden Klick-Prototypen häufig als Papierskizzen, sogenannte Papier Prototypen, erstellt. Der Fokus der Papierskizzen liegt auf Art der Nutzer:innenführung, Seitenaufbau, Kund:innenansprache und Fragenabfolge. Hierbei wird im ersten Schritt bewusst noch nicht der Anspruch auf inhaltliche Vollständigkeit, sprachliche Präzision und optische Merkmale gelegt. Für die Erstellung des Papier-Prototypen können optional die Vorlage Designmuster Papier-Prototyp verwendet werden. Die Papierskizzen können digitalisiert werden, sodass sich die Testnutzer:innen z.B. auf einem Tablet-PC durch die Skizzen klicken und die geplante Abfolge der Seiten nachvollziehen können. Abbildung 67 zeigt eine Papierskizze am Beispiel des Weiterleistungsantrags für das Wohngeld.



Abbildung 67: Papier-Prototyp Wohngeld Weiterleistungsantrag

Nach ersten Nutzer:innentests werden in einem zweiten Schritt digitale Entwürfe (sogenannte Wire Frames) basierend auf den Papier-Prototypen und dem Kund:innenfeedback erstellt. Der Fokus liegt hierbei auf einem erstem digitalen Layout und einer inhaltlich vollständigen Testversion. Auch hier spielt eine ansprechende optische Darstellung noch keine wesentliche Rolle. Abbildung 68 zeigt die Startseite des digitalen Entwurfs für das Pilotlabor Wohngeld. Dieses Beispiel ist auch online abrufbar (Link: https://mckinsey.invisionapp.com/share/8MIKVFDQE; Passwort: wohngeld!2018)



Abbildung 68: Digitale Entwürfe (Beispiel Wohngeld)

In ähnlicher Weise wird basierend auf den digitalen Entwürfen und dem erhaltenen Nutzer:innenfeedback eine High-End Version des Prototypen erstellt. Dieser soll die echt wirkende digitale Lösung simulieren und für eine finale Runde Nutzer:innentests verwendet werden, um auf der Basis weiter optimiert zu werden. Abbildung 69 visualisiert die High-End Version des digitalen Prototyps (Beispiel Wohngeld). Dieses Beispiel ist auch online abrufbar (Link: https://mckinsey.invisionapp.com/share/45JDE6TDX; Passwort: wohngeld!2018ozg)



Abbildung 69: High-End Version digitaler Prototyp (Beispiel Wohngeld)

Der jeweilige Arbeitsstand des Klick-Prototypen sollte regelmäßig per E-Mail mit allen Laborteilnehmenden geteilt und zudem regelmäßig im Steuerungskreis mit Rechts- und Vollzugsexpert:innen abgestimmt werden.


8.4.4 Durchführen von Tests mit Nutzerinnen und Nutzern

Wie im Vorherigen beschrieben, besteht eine wesentliche Aufgabe des Digitalisierungslabors in der Durchführung von Nutzer:innentests für den entwickelten Arbeitsstand des Prototypen mit den identifizierten Personas. Nutzerinnen und Nutzer werden hierbei in Einzelgesprächen durch die Papier-Prototypen geleitet und zu ihren Gedanken dazu befragt. Diese Gespräche werden in der Regel mit einer Gruppe von 5-10 Nutzerinnen und Nutzern geführt, die möglichst unterschiedliche Profile der anfänglich identifizierten Personas für die jeweilige Verwaltungsleistung abbilden. Hierbei ist es möglich, aber nicht notwendig, dass die Zusammensetzung der befragten Nutzerinnen und Nutzer über alle Iterationen hinweg unverändert bleibt.

Die Nutzer:inneninterviews dauern typischerweise etwa eine Stunde und werden durch einen Interviewer bzw. einen Interviewerin geführt. Diese Rolle kann entweder durch eine Agentur oder – nach einer kurzen Einführung in das Führen von Nutzer:inneninterviews – durch ein Mitglied des Laborteams ausgefüllt werden. Sofern möglich, ist es hilfreich unter Berücksichtigung der jeweiligen Datenschutzbestimmungen, die Interviews per Video oder O-Ton zu dokumentieren. Im Anschluss an die Interviews dokumentiert die interviewende Person das wesentliche Nutzer:innenfeedback entlang der Kund:innenreise durch die betrachtete Leistung.

Abbildung 70 gibt ein Beispiel für die Dokumentation des wesentlichen Nutzer:innenfeedbacks zur Startseite der Papierskizzen für den Wohngeldantrag. Üblicherweise wird jede Ausbauvariante des Klick-Prototypen mindestens einmal getestet, sodass für komplexe Leistungen häufig mindestens drei Iterationen mit Nutzer:innen durchgeführt werden. Die genaue Anzahl an Iterationen hängt von der Heterogenität des Nutzer:innenfeedbacks ab. Wenn die Testnutzer:innen konsistent positives Feedback geben sind für die jeweilige Ausbaustufe zunächst keine weiteren Tests erforderlich.


Abbildung 70: Dokumentation Nutzer:innenfeedback am Beispiel Startseite der Papierskizzen Wohngeld


8.4.5 Übersicht der Endprodukte des Digitalisierungslabors

Die Endprodukte eines Digitalisierungslabors bilden die Basis für die Implementierung des erarbeiteten Konzeptes. Sie umfassen typischerweise die Darstellung des entwickelten Soll-Prozesses in Form des Klick-Prototypen und einer Prozessmodellierung auf Basis von BPMN, einen Umsetzungsplan, die FIM-Stamminformationen sowie weitere Informationen und Unterlagen. Die wesentlichen Endprodukte werden im Folgenden kurz erläutert.

Der Klick-Prototyp ist die erlebbare Repräsentation der digitalen Vision und dient zur Illustration gegenüber jenen, die mit der technischen Umsetzung beauftragt werden und politische Entscheidungen zu treffen haben. Er stellt einen linearen Standardprozess der am häufigsten vorkommenden Nutzer:innenreise (sog. „Happy Path") in Bezug auf die betrachtete Leistung dar.

Der Soll-Prozess als Prozessmodellierung ist eine technisch semantische Darstellung des erarbeiteten Zielprozesses. Zusammen mit dem Klick-Prototypen wird die Prozessdarstellung zur Entwicklung an den jeweiligen IT-Dienstleister übergeben. Im Pilotlabor Wohngeld wurde der Zielprozess als detailliertes Prozessdiagramm modelliert. Anders als der Klick-Prototyp stellt die Prozessmodellierung nicht nur eine ausgewählte Nutzer:innenreise („Happy Path") dar, sondern detailliert die wesentlichen Geschäftsvorfälle. Sie führt dabei jedoch nicht alle Sonderfälle bis zum Ende aus, sondern fokussiert sich auf die Prozesse für die am häufigsten vorkommenden Geschäftsvorfälle. In Sonderfällen wird typischerweise auf eine manuelle Lösung verwiesen.


Abbildung 71: FIM-Stamm- und Referenzinformationen je Leistung

Die standardmäßigen FIM-Stamminformationen FIM-Stammtext, FIM-Stammdatenfelder und FIM-Stammprozesse dienen als rechtlich abgesicherte Grundlage der Arbeit im Digitalisierungslabor und werden im Hinblick auf die Bundesgesetze für alle Typ 1-3-Leistungen durch die Bundesredaktion erstellt. Für Leistungen in denen die Gesetzgebung bzw. ein Teil selbiger in den Bundesländern erfolgt, sind die benötigten FIM-Stamminformationen durch die FIM-Redaktionen der Bundesländer zu erstellen.

Sie werden ergänzt durch die sogenannten Referenzdatenfelder, eine Liste aller im digitalen Antrag benötigten Daten (rechtssicher, bundeseinheitlich, für Nutzerinnen und Nutzer verständlich formuliert). Darin werden jene Datenfelder gekennzeichnet, die der Verwaltung durch Registeranbindung bereits vorliegen. Abbildung 71 gibt einen Überblick über die je Leistung zu erstellenden FIM-Stamm- und Referenzinformationen.

Der Umsetzungsplan soll den Übergang der im Digitalisierungslabor konzipierten Lösung in ein Implementierungsprojekt und eine frühzeitige Inbetriebnahme des Minimalproduktes (MVP) sicherstellen. Er umfasst insbesondere die Definition eines Minimalproduktes, das bei aktueller Rechts- und Registerlage bzw. mit kurzfristig umsetzbaren Änderungen umgesetzt werden kann.

Darüber hinaus umfasst der Umsetzungsplan die Erstellung einer zeitlichen Ablaufplanung der Umsetzung sowie die Klärung eines Organisations- und Finanzierungsmodell für die Umsetzung der Leistung. Diese Themen werden im folgenden Kapitel „Vorbereitung der Umsetzung" vertieft. Die Ausgestaltung und Elemente der Umsetzungsvorbereitung unterscheiden sich stark in Abhängigkeit davon, ob eine Länder-/Kommunen-individuelle oder -übergreifende Lösung entwickelt werden soll.

Weitere Endprodukte des Digitalisierungslabors umfassen – abhängig von der betrachteten Leistung – z.B. Rechts-/Infrastruktur-Anforderungen an die Registeranbindung, Anforderungen an die Schnittstelle zwischen Online-Antrag und Fachverfahren, sowie mögliche kurzfristige Verbesserungen des bestehenden Prozesses. Ein Beispiel hierfür ist die Entwicklung und Pilotierung eines nutzungsfreundlichen Papierantrags als Nebenprodukt des Digitalisierungslabors Wohngeld.

Stand: 07.10.2021